Der leise Tod der Arbeitnehmer
Die Arbeitswelt verändert sich. Manche Entwicklungen passieren abrupt und laut, andere schleichend und leise. So könnte auch die klassische Arbeitnehmerrolle langsam und unbemerkt aussterben, wenn sich globale Arbeitsmarkttrends fortschreiben. Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man den Wandel der inhaltlichen Ausgestaltung der Beschäftigtenrolle beobachtet. Ich sehe hier eine sukzessive Erosion des alten Rollenbildes vom Arbeitnehmer. Was heute noch Beschäftigte in der Rolle als Arbeitnehmer:innen sind, könnten morgen schon Freelancer sein.
Der wesentliche Treiber für diese Veränderung im Rollenbild lässt sich an dem Oberbegriff New Work festmachen. Diese zukunftsweisende Form der Zusammenarbeit in Unternehmen definert sich über Begriffe wie Eigenverantwortung, Selbstorganisation und Ergebnisorientierung und gibt den Beschäftigten ein neues Rollenverständnis mit in ihren Arbeitsalltag.
Freelancer versus Arbeitnehmer
Damit stellt sich natürlich die Frage, wie sich das Rollenbild von Freelancern und Arbeitnehmer:innen unterscheidet. Das Futter für die Beantwortung liefern verschiedene, erstmal dröge daherkommende Gesetze. Sie spielen eine Rolle bei der sozialversicherungstechnischen Überprüfung, ob jemand Arbeitnehmer:in oder Solo-Selbstständige/r, sprich Freelancer, ist.
Sofern er oder sie Arbeitnehmer:in ist, wird die Tätigkeit sozialversicherungspflichtig, ist das nicht der Fall, liegt eine Solo-Selbstständigkeit vor und die Betroffenen müssten sich selbst gegen die entsprechenden Risiken versichern, was viele aber dann leider nicht machen. Deshalb steht diese Abrenzungsfrage im Fokus von vielen Unternehmen, die sich gerne Freelancer einkaufen, um sich Ressourcen zu sichern, die preiswerter sind und flexibler disponiert werden können als Arbeitnehmer:innen. Den Sozialversicherungsträgern wiederum ist dies ein Dorn im Auge, gehen ihnen doch so wichtige Beitragseinnahmen verloren.
Der Anteil der Solo-Selbstständigen von gegenwärtig 3,8 % der Erwerbstätigen in Deutschland hat in den letzten drei Jahrzehnten im übrigen kontinuierlich zugenommen. Einen Wachstumsschub gab es durch den Existenzgründerzuschuss für die sog. „Ich-AG“, der erstmals mit den Hartz-Gesetzen eingeführt wurde.
Was bin ich?
Die Frage, ob jemand Arbeitnehmer:in oder Freelancer ist, wird im Rahmen eines sog. Statusfeststellungsverfahrens durch die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung individuell geprüft und festgelegt. Der so festgelegte Status gilt anschließend für alle Bereiche der Sozialversicherung. Dabei wurden über die Jahre eine Reihe von Kriterien entwickelt, die bei der Klassifizierung zum Tragen kommen und darüber entscheiden, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt oder nicht.
Wesentliche Anhaltspunkte liefert das Gesetz (§ 611a BGB; § 7 IV SGB IV). Ganz entscheidend kommt es auf die Weisungsgebundenheit des Mitarbeiters an. Weisungsgebunden ist jemand, dem Inhalt, Ort und Zeit der Arbeit im Wesentlichen vom Arbeitgeber vorgeschriebenwerden. Freier Mitarbeiter ist hingegen, wer seine Tätigkeit selbst gestaltet und Arbeitszeit und -ort frei bestimmt.
Wer sich mit New Work beschäftigt, wird spätestens an dieser Stelle hellhörig. Denn genau diese Kriterien spielen auch bei der Gestaltung neuer Arbeitsformen in Unternehmen eine entscheidende Rolle. Der folgende Rückblick auf die sich in den letzten Jahren geänderten Rahmenbedingungen im Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis macht das deutlich.
Home-Office – The Place to be
Die Corona-Nachwehen haben den Beschäftigten ohne Zweifel mehr Selbstbestimmung bei der Wahl des Arbeitsplatzes geschenkt. Es sind in den Unternehmen unterschiedlichste Modelle für die selbstbestimmte Wahl des Arbeitsplatzes entstanden, die auch, nicht immer zur Freude der Arbeitgeber, genutzt werden. Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: der Anteil der Heimarbeiter:innen ist deutlich gestiegen. Unter dem Strich ist der Grad der Weisungsgebundenheit damit offensichtlich kleiner geworden.
Büro für alle – Shared desk policy
Viele von denjenigen, die den Rest ihrer Wochenarbeitszeit im Büro verbringen, sehen sich auch dort mit einschneidenden Veränderungen konfrontiert. Die Zeiten von „Mein Stuhl, mein Tisch, mein Büro“ neigen sich dem Ende zu. Das Privileg eines festen Arbeitsplatzes mit eigener Ausstattung und persönlichem Zubehör (z.B. Bilder von der Familie oder Blumen aus dem eigenen Garten) geht vielerorts verloren.
Es wird durch das Shared Desk Konzept ersetzt, bei dem sich mehrere Mitarbeitende flexibel Schreibtische und Büroräume teilen. Dieses Organisationsmodell ist auf die effiziente Nutzung von Arbeitsplätzen ausgerichtet und spart den Unternehmen hohe Infrastrukturkosten.
Am Ende teilen die Beschäftigten das Schicksal von Unternehmensberatern, die bei Mandatsübernahme vielfach auch nicht wissen, wo sie sich zeitweise einrichten müssen, um ihre Arbeit zu verrichten. Einen festen Arbeitsplatz haben sie nicht und in diesem Sinne sind sie auch nicht so in die Organisation integriert, wie es für Arbeitnehmer:innen (bisher) typisch war.
Arbeitsmittel – Bring your own device
Die Berufsgruppe der Berater hat die Personalverantwortlichen vielleicht auch inspiriert, die BYOD-Policy einzuführen. Sie bezeichnet die Möglichkeit, privates Equipment wie Mobiltelefone oder Notebooks für den Arbeitseinsatz im Unternehmen mitzubringen und zu nutzen. Die Vorteile bestehen darin, dass die Beschäftigten ihnen vertraute Geräte verwenden, nicht mehrere Geräte nutzen müssen und Unternehmen gleichzeitig auch Kosten sparen können. Dies gilt im übrigen auch für das Arbeiten im Home-Office, wo viele Beschäftigten gezwungen sind, eigene Laptops und Telefone zu nutzen und damit auch selbst zu bezahlen. Wie beim Home-Office wird das Kostenthema für Betriebsmittel auf die Beschäftigten abgewälzt, was eher für einen Freelancer als für eine/n Arbeitnehmer:in spricht.
Arbeitszeit – 9 to 5 is out
Auch was dieses Thema betrifft, könnten die Unternehmensberater das Vorbild gewesen sein. Für sie gilt, dass es dem Auftraggeber egal ist, wann sie die geforderte Gremienpräsentation anfertigen, Hauptsache sie sind rechtzeitig fertig. In diesem Sinne haben sie flexible Arbeitszeiten.
Das gilt zunehmend auch für die Arbeitnehmer:innen in Deutschland, die, über die Jahrzehnte betrachtet, noch nie so flexibel ihre Arbeitszeit einteilen konnten wie heute. 49 % der Erwerbstätigen haben nach einer Erhebung von Eurostat angegeben, vollkommen oder teilweise flexbiel bei der Einteilung ihrer Arbeitszeit agieren zu können. Auch hier hat der Grad der Weisungsgebundenheit demnach abgenommen und wir bewegen uns in Richtung der Arbeitsbedingungen für Freelancer.
Vorgegebene Inhalte oder vereinbarte Ergebnisse
In der New Work Welt agieren die Beschäftigten eigenverantwortlich und werden nur noch am Ergebnis ihres Schaffens gemessen. Die traditionellen Aufgaben der Führungsebene, Vorgaben über den Prozess der Leistungserstellung zu machen und die Einhaltung der Vorgaben zu überwachen, wird obsolet. Die Teams in den Unternehmen organisieren sich in der neuen Arbeitswelt selbstständig und eigenverantwortlich. Am Ende zählt nur ihr Ergebnis und nicht ihr Einsatz.
Damit verschwindet ein weiteres Kriterium, das die traditionelle Arbeitnehmerrolle ausmacht. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts schuldet der Arbeitnehmer die Ausschöpfung seiner individuellen Leistungsfähigkeit und keinen bestimmten Arbeitserfolg. Anders ist dies hingegen bei Freelancern, die einen sog. Werkvertrag nach § 631 BGB abgeschlossen haben und sich damit verpflichten, einen definierten Erfolg herbeizuführen, z.B. eine Website zu programmieren. In dem Maße, wie sich die Auffassung auf Arbeitgeberseite im Hinblick auf die geschuldete Leistung verändert, wandelt sich auch die Rolle vom Arbeitnehmer:in hin zu Freelancern, die am Ende daran gemessen werden, was sie liefern.
Was noch fehlt
Bevor alle Arbeitsrechtler jetzt ihren Widerspruch gegen mein Gedankenspiel erheben, sei noch erwähnt, dass noch andere Kriterien erfüllt sein müssen, bevor eine Solo-Selbstständigkeit bejaht werden kann. So geht es um die Möglichkeit, seine Leistung auf dem Markt gegenüber mehreren Auftraggebern anzubieten und das damit verbundene Risiko der Entlohnung selbst zu tragen.
Hieran scheitert die Qualifizierung als Solo-Selbsständiger oftmals, weil die Betroffenen nur für einen Auftraggeber arbeiten und von daher wirtschaftlich abhängig sind. In der Tagespresse liefern die Pizza-Fahrer der unzähligen Essenslieferdienste ein Beispiel für die juristische Auseinandersetzung über diese Form der Scheinselbstständigkeit.
Unterm Strich
Mir geht es bei meinen Gedankenspiel nicht um ein juristisch sauberes Statusfeststellungsverfahren für die Sozialversicherung, sondern um die Sensibilsierung für ein neues Rollenverständnis der Arbeitnehmer:innen, das dem Rollenbild der Freelancer immer näher kommt.
Der Trend ist meines Erachtens eindeutig. Die Beschäftigten können mehr gestalten, wie sie arbeiten möchten, werden dafür jedoch stärker am Ergebnis gemessen. Das geplante Bewertungssystem für Mitarbeiter:innen bei SAPweist den Weg zu einer stärkeren Performance-Kultur und ist ein aktuelles Beispiel für den Druck, der damit aufgebaut wird. Außerdem müssen die Beschäftigten auch mehr zur Party mitbringen, sprich beim Home-Office die Kosten selbst tragen. Die gewonnenen Freiheiten haben somit natürlich auch einen Preis, der sich in verschiedenen Aspekten wiederspiegelt. Mir fallen dazu spontan drei Dinge ein:
- Immobilienexperten prognostizieren, dass Wohnungsssuchende vermehrt nach größeren Wohnungen suchen werden, um ihr Home-Office zuhause auch unterbringen zu können. So wie der Bedarf an angemieteten Büroflächen sinkt, so steigt der Bedarf an Wohnfläche zum Arbeiten. Interessanterweise sind die Gewerkschaften noch nicht auf die Idee gekommen, in den Tarifverhandlungen auch einen Gehaltsaufschlag für Heimarbeiter:innen zu fordern, weil sie die Kosten der Nachfrageverschiebung zu tragen haben. So wie Handwerker eine Anfahrtspauschale für ihr Kommen in Rechnung stellen, könnten Arbeitnehmer doch auch eine Wegbleib-Pauschale für ihr Arbeiten im Home-Office in Rechnung stellen.
- Es gibt den schönen Spruch „Selbstständige arbeiten selbst und ständig“. Diese Erfahrung wird nicht unbedingt jeden glücklich machen, geht dies doch mit einer höheren Verantwortung sowie einer persönlichen Mehrbelastung einher. Der Eine oder Andere, der Eigenverantwortung und Selbstorganisation zu Beginn lautstark einforderte, dürfte am Ende da stehen wie der Zauberlehrling von Goethe und rufen: „Die ich rief, die Geister – werd ich nicht mehr los!“, als dieser der Lage nicht mehr Herr wurde.
- Mehr Performance-Kultur in einer Welt von Beschäftigen mit gefordertem Unternehmerspirit, verbunden mit Transparenz über die Ergebnisse und Eigenverantwortung für den Prozess machen es dem einzelnen Beschäftigten schwerer, sich im Durchschnitt der Belegschaft einzurichten. Wer am Erfolg gemessen wird, muss sich erklären und wenn dieser ausbleibt, im Zweifel auch die Konsequenzen tragen. Wenn dann die Gewerkschaften als Interessenvertreter fehlen, weil alle nur noch als kleine „Ich-AG´s“ ohne starke Lobby agieren, kann es leicht ungemütlich werden.
Wie geht es weiter
Der Zug in Richtung einer Neudefinition der Beschäftigtenrolle rollt schon. Teils von den Unternehmern gezogen und teils von den Beschäftigten gepusht.
Und wer wissen will, wo die Reise hingeht, muss nur einen Blick über den Atlantik werfen. Google, das immer wieder gern zitierte Unternehmen, wenn es um zukunftsweisende Arbeitsbedingungen geht, hat schon im Jahr 2019 mit 120.000 Freelancer mehr Solo-Selbstständige als Angestellte beschäftigt,die es nur auf eine Anzahl von 102.000 brachten.
Insgesamt ist der Freelancer-Anteil in den USA deutlich höher als in Deutschland. Er wird dort getragen von den jüngeren Generationen, wie man daran sieht, dass 70 % der Freelancer dort unter 35 Jahre alt sind. Das andere Mindset der GenZ und Millenials im Arbeitskontext zeigt dort seine Wirkung.
Es wird erwartet, dass die Zahl der Freelancer in den USA von 70 Millionen im Jahr 2022 auf 90 Millionen im Jahr 2028 ansteigen wird – das wäre mehr als die Hälfte der arbeitenden US-Bevölkerung. Wenn die Regel noch gilt, dass die US-Trends mit einer Verzögerung zu uns herüberschwappen, so bekommen wir ein klares Bild, von dem was auf uns zukommt.
Möge jeder selbst für sich entscheiden, ob das für den Arbeitsmarkt und die Menschen besser oder schlechter als heute ist. Auf jeden Fall wird es anders.